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Publikation: Hach W (1997) Die Medizin im Alten Berlin.
Phlebologie 26:205-9

Aus dem wissenschaftlichen Institut für Angiologie
(Prof. Dr. W. Hach)

Die Medizin im Alten Berlin

Von Wolfgang Hach


Die Entwicklung der modernen Medizin begann in den europäischen Metropolen etwa gleichzeitig im 17. Jahrhundert. Aber bald nahm Berlin eine führende Rolle ein. Der preußische Staat förderte vorwiegend aus militärischen Gründen die Ausbildung der Ärzte sowie die Einrichtung von Instituten und Krankenanstalten in besonderem Masse. So erlangte die Berliner Charité schon im frühen 19. Jahrhundert ihren Weltruf. Nach Gründung der Humboldt-Universität 1810 gelang es Wilhelm von Humboldt, die berühmtesten Gelehrten in Amt und Würden zu berufen. In Berlin wirkten Christoph Wilhelm Hufeland, Bernhard von Langenbeck, Rudolf Virchow, Robert Koch und viele andere. Bald galt Berlin mit seinen neuen Krankenhäusern und der vorbildlichen Sozialreform als die fortschrittlichste unter den Weltstädten.

Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Preußischer Staatsmann. Gründer der Berliner Universität anno 1810

Die weltberühmte Berliner Medizin begann am 13. November 1709, als der preußische König Friedrich I. nach einer Unterredung mit dem russischen Zaren von Ostpreußen nach Berlin zurückkehrte. Von seiner Kutsche aus mußte der König die verheerenden Folgen der Pest mit eigenen Augen erleben. Ganze Dörfer und Landstriche waren ausgestorben. Die Seuche pflanzte sich von Polen aus in einem schnellen Tempo nach Westen fort und würde demnächst also auch vor die Tore Berlins gelangen. Zur Bekämpfung der Pest oblag es den Magistraten, „... daß weit außerhalb jeder Stadt/insonderheit bei dero Residentzien Lazareth-Häuser zu errichten sind, an solchen Orthen/die lufftig seyn/und von Winden bestrichen werden können; die zwar außer der Circumvallation, doch aber nicht gar zufern von derselben/umb commoderes Einbringender Inficirfen/liegen.“ Friedrich entschloß sich für einen Platz am Ufer der Spree, wo die Panke einmündet. Innerhalb eines Jahres baute er das modernste Pesthaus der Welt, das Lazareth-Haus. Die Pest forderte im Königreich Preußen sehr viele Opfer. An Berlin ging die Seuche zwar vorbei, Berlin hatte aber trotzdem seine Charité bekommen. Anfangs wurde sie als Garnisonslazarett, dann als Spinn- und Arbeitshaus für Bettler sowie als Verwahrungsanstalt für arme Kinder benutzt.

Die Charité im Jahre 1709/10
(Bildnachweis: R Winau)

Die Entwicklung der Berliner Medizin läßt sich nur vor dem Hintergrund der politischen Situation verstehen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) befand sich das Erbe der Hohenzollern, die Mark Brandenburg und das Herzogtum Preußen, in einem wirtschaftlichen Ruin. Verwüstungen, Hungersnöte und Seuchen hatten ganze Landstriche entvölkert, als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688) im Jahre 1640 seine Regierung antrat. Berlin und Cölln, die beiden Städtchen diesseits und jenseits der Spree, hatten zusammen nur noch 5000 Einwohner. Mit Diplomatie und militärischer Disziplin ordnete der Große Kurfürst seinen Staat. Um der hohen Sterblichkeit in der Bevölkerung entgegenzuwirken, errichtete er mehrere Asyle für die Armen, Kranken und Hilflosen.

Der Große Kurfürst hat es durch die Gewährung von Privilegien verstanden, namhafte Leibärzte an seinen Hof nach Berlin zu berufen. Dazu gehörte vor allem Dr. Martin Weise (1605-1693), dessen Wort am Hof wie ein Gesetz galt.

Dr. Christian Menzel (1622-1701) widmete sich neben seiner Funktion als Leibarzt vor allem der Botanik und gilt als Mitbegründer des Botanischen Gartens in Berlin. Dr. Johann Siegesmund Elzholtz (1623-1688) war ebenfalls Leibarzt. Er erfand die intravenöse Injektion, die neue Klysterkunst. In diese Zeit gehörte auch die Berufung von Justine Siegemundin (1648-1705) an den Berliner Hof als Chur- Brandenburgische Hofwehemutter.

Im 17. Jahrhundert lag die Medizin hauptsächlich in den Händen von Wundärzten und Badern, die ihre Tätigkeit als Handwerk ausübten. Es gab aber auch unzählige Wurzelkrämer, Waldmänner, Olitätenträger und Heilmittelkrämer. Um eine gewisse Kontrolle des Preußischen Staats zu erwirken, hat der Große Kurfürst auf Empfehlung von Dr. Weise (1685) das Collegium medicum gegründet und das erste Chur-Brandenburgische Medizinaledikt erlassen. Letztendlich begann damit die Entwicklung der Berliner Medizin.

Nach dem Tod des Großen Kurfürsten (1688) kam sein Sohn Friedrich (1657-1713) als Kurfürst an die Regierung; er ernannte sich 1701 als Friedrich I zum König von Brandenburg-Preußen. Unter seiner Initiative eröffnete das Große Friedrichshospital im Jahre 1695 seine Pforten. Erstmals erfolgte hier eine Trennung der Insassen. Die Patienten waren in Krankensälen untergebracht und erhielten eine ärztliche Versorgung. Die faulen, starken Bettler und liederlichen Weibspersonen mußten dagegen in der Spinnstube des Hospitals eine harte Arbeit verrichten.

Das grosse Friedrichshospital 1687
(Bildnachweis: R. Wienau)

Anfangs des 18. Jahrhunderts war die Berliner Medizin noch ganz im Geiste des Mittelalters befangen. König Friedrich I. brachte den Wissenschaften und der Medizin kein übermäßiges Vertrauen entgegen. Er ernannte 1709 noch den Scharfrichter Coblintz als Leibmedicus, weil der durch seine Erfahrungen im Foltern und im Vierteilen über die besten anatomischen Kenntnisse verfügte. Friedrich Hoffmann (1660-1742), Professor an der neugegründeten Preußischen Universität in Halle, beklagte 1711 in einem Vortrag, daß Berlin nicht einmal über ein anatomisches Theater, viel weniger über eine Universität verfügte. Im Jahre 1700 wurde aber auf Veranlassung des Philosophen Freiherr Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) die Sozietät der Wissenschaften gegründet, die dann 1740 in die Akademie der Wissenschaften überging.

Als der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I (1688-1740) im Jahre 1713 an die Regierung kam, änderten sich die Verhältnisse sofort. Das Militär wurde von 31 000 Mann beim Großen Kurfürsten auf 380 000 verstärkt und trat an die erste Stelle im Staate Preußen. Die Etablierung des Militär-Sanitätswesens hatte eine schnelle Entwicklung der Medizin zur Folge. Die Ausbildung der Regimentschirurgen und die Behandlungsmöglichkeiten der Soldaten wurden mit Nachdruck durchgesetzt.

Im Jahre 1713 wurde die Errichtung des Anatomischen Theaters in Berlin beschlossen. Der König ließ hierfür im Observatorium des Marstalls eine Decke zwischen zwei Stockwerken herausbrechen. Unten befand sich das Theater mit dem Seziertisch und im oberen Stockwerk die Einrichtung zu Operationskursen an Leichen. Drei Tage nach der Einweihung führte Professor Christian Maximilian Spener (1678-1714) die erste anatomische Sektion durch. Sogleich gab es beispielhafte Neuheiten: Überall auf der Welt wurde die Anatomie noch in Latein gelehrt, im Sanitätsdienst mußte aber Deutsch gesprochen werden. König Friedrich Wilhelm verpflichtete alle Wundärzte, Feldschere, Apotheker und später auch Hebammen unter der Androhung von harten Strafen, an den wöchentlichen Vorlesungen teilzunehmen. Die Berliner Anatomie erhielt auf Anweisung des Königs alle Leichname der Gehängten und der in Armut gestorbenen Personen eingeliefert. Das galt als vorbildliche Anordnung, denn in den berühmten Anatomien in Leyden, Paris, Padua oder Edinburgh stand oftmals im Jahr jeweils nur ein Leichnam zur Verfügung und manchmal auch das nicht, so daß die terra incognita humana an Schweinekadavern demonstriert werden mußte.

Im Jahre 1723 wurde von Friedrich Wilhelm I. das Collegium medico-chirurgicum gegründet, um die Anatomie in eine Palette der Naturwissenschaften und der medizinischen Disziplinen einzubinden. Dem König kam es in der Hauptsache aber auf die optimale Ausbildung der Militärchirurgen an. Später nahm das Collegium dann auch die Prüfung für die Chirurgen ab. Mit dem Collegium medicum und dem Collegium sanitatis entstand ein gut organisiertes Gesundheitswesen im preußischen Staat. Die Marktschreier. Bruchschneider, Zahnärzte und Wurzelkrämer durften nach 1725 nur noch mit einem städtischen Privileg auf dem Marktplatz auftreten. Auch der berühmte Dr. Eisenbarth gehörte in diese Zeit des alten Berlins.

Das Pesthaus an der Spree wurde vom Soldatenkönig zum zentralen Garnisonslazarett für Berlin umfunktioniert und seit 1726 auch zur Ausbildung der Chirurgen zugelassen. Mit der Angliederung eines Hospitals für die Bürger erhielt es den Namen Charité. Die Hälfte der Unterhaltungskosten wurden vom König getragen, die andere Hälfte von der städtischen Armenkasse. Das Geld reichte aber bei weitem nicht aus. Die Patienten mußten nach ihrer Entlassung aus der Charité entweder einen kleinen Kostenbeitrag leisten oder im Arbeitshaus ihre Schulden zu einem gewissen Teil abarbeiten. Die Effektivität der medizinischen Therapie in der Charité war um 1730 katastrophal. Die Mortalität lag bei 28,4%. Vielleicht spielte der Hospitalbrand, die Wundinfektion, dabei eine wichtige Rolle; in der Hauptsache dürfte aber wohl der schlechte Allgemeinzustand der Patienten daran schuld gewesen sein. Immerhin waren Armut und Ausgezehrtheit ein großer Teil der Einweisungsgründe, und gegen die Infektionskrankheiten, das Fieber, gab es ohnehin keine Therapie. Hinzu kamen sanitäre Mißstände und die permanente Überfüllung. Es hieß: »Solange ein Soldat heilbar ist, wird er beym Regiment tractiert, wenns da nicht fort will, kommt er erst unter die Hände alter Weiber, Pfuscher und Scharfrichter, und wenn denn auch diese nicht helfen können, wen Hopfen und Maltz verloren, und der Kranke dem Regiment zur Last geht, alsdenn wird er der Charité gelieffert, mehrentheils in keiner anderen Absicht, als das er darinnen soll zu Tode gefüttert werden. Es geht nicht alleine mit den Soldaten, sondern zum Theil mit bürgerlichen Kranken.«

Friedrich der Große (1712-1786) regierte von 1740 bis 1796 den preußischen Staat. Auch zu seiner Zeit blieb die medizinische Versorgung der Bürger katastrophal. Die Kindersterblichkeit betrug 60%. Unter diesen Voraussetzungen lag das durchschnittliche Lebensalter der Menschen für die Oberschicht bei 31,3 Jahren und für die schlechter gestellten Patienten bei 21 Jahren. Hauptsachliche Todesursachen waren die Infektionskrankheiten.

Erst nach 1798 wurden die Funktionen des Armen- und Arbeitshauses der Charité abgegeben und die Krankenversorgung sowie die medizinische Ausbildung ganz in den Vordergrund gestellt. Der erste Chirurg war Gabriel Senf (1727-1737). Bis 1786 konnten allein acht chirurgische Professoren eingestellt werden, die dem Krankenhaus vor allem als Ausbildungsstätte einen hervorragenden Ruf vermittelt haben. Von Friedrich dem Größen wurde der Bau der sogenannten Alten Charité in Angriff genommen und im Jahre 1800 beendet. Damit war der Übergang zu einem modernen Krankenhaus vollzogen, das sich nur noch der Behandlung von Patienten zu widmen hatte.

Friedrich der Große und die nachfolgenden Könige setzten die preußische Politik fort; das Militär spielte im Staat die dominierende Rolle und damit auch das Sanitätswesen. Die drei Schlesischen Kriege kosteten über 500 000 Tote. Die Charité reichte zur Ausbildung der Armee-Chirurgen schon lange nicht mehr aus. Im Jahre 1795 wurde deshalb von Friedrich dem Großen die Pépenière zur Ausbildung von Militärärzten gegründet. Als erster Chef leitete Johann Goercke (1750-1822), der die fliegenden Lazarette erfunden hatte, die Institution. Die Ausbildung war jedem Gymnasiasten möglich und äußerst streng. Als einer der berühmtesten Schüler ging später Rudolf Virchow daraus hervor.

Mit der Eröffnung der Humboldt-Universität 1810 wurde die Charité zur Medizinischen Universitätsklinik. Das Collegium medico-chirurgicum, der Botanische Garten und das Anatomische Theater kamen ebenfalls in den universitären Bereich. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) gelang es, berühmte Persönlichkeiten in Amt und Würden zu berufen. Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) war der erste Dekan der Alten Charité. Er hat die Poliklinik gegründet, um einerseits den Armen eine medizinische Behandlung kostenlos anbieten zu können und andererseits eine optimale Ausbildung der Medizinstudenten zu erreichen. Mit seinem Buch über Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1793) wandte er sich erstmals in allgemeinverständlicher deutscher Sprache an die jungen Bürger. Als Prinzipien seiner Makrobiotik galten die Diätetik und vor allem die moralischen Gesetze. Hufelands Vorlesungen zu diesem Thema waren die meist besuchten aller Zeiten, bis zu 500 Studenten drängten sich in seinen Hörsaal.

Die junge Berliner Universität bot jetzt die Voraussetzungen für die Gründung der berühmten naturhistorischen Schule in der Medizin, die vor allem durch den Physiologen Johannes Müller, den Internisten Johann Lukas Schönlein und den Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach vertreten war.

Johannes Müller (1801-1858) gehörte zu den ganz Großen der Berliner Medizin. Er wurde 1801 in Koblenz geboren. Sein Vater war Schuhmachermeister. Auf dem Gymnasium erhielt er eine exzellente Ausbildung in Mathematik und den alten Sprachen: Er konnte die Schriften von Aristoteles im Original mühelos lesen. Müller war durch die Naturphilosophie von Schelling und von Hegel geprägt, wandte sich dann nach dem Studium der Naturwissenschaften und der Medizin in Bonn aber schnell davon ab. Müller wurde in seinem 31. Lebensjahr auf den Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie in Berlin berufen. Er leitete das große Berliner Institut bis zu seinem Tode 1858.

Die wesentlichen Entdeckungen von Johannes Müller waren das Gesetz der Spezifität der Sinnesenergie und die Entdeckung des Müllerschen Gangs in der Urogenitalentwicklung. Er hat das Handbuch der Physiologie verfaßt, war mehrmals Dekan und Rektor der Berliner Universität. Aus seiner Schule gingen namhafte Gelehrte hervor. Du Bois-Reymond, von Helmholtz, Virchow, Henle, Haeckel, um nur einige zu nennen. Müller hat auch zahlreiche zoologische Studien durchgeführt und die Erforschung des Planktons begründet.

Johann Lukas Schönlein (1793-1864) wurde in Bamberg als Sohn eines wohlhabenden Seilermeisters geboren. Er wandte sich zunächst ganz der Paläontologie zu, die im fossilienreichen Bamberger Umland in großer Mode stand. Teile seiner großen Petrefaktensammlung sind noch heute im Naturkundemuseum Berlin verwahrt. Mit 30 Jahren wurde Schönlein in Würzburg zum ordentlichen Professor für spezielle Pathologie und Therapie bestellt. Er verwickelte sich dann in politische Ränke, nahm an einem Pulverattentat auf die Frankfurter Hauptwache teil und mußte nach Zürich gehen. Von dort wurde er 1839 an die Charité berufen. Er wurde Leibarzt des jungen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. und war einer der einflußreichsten Ärzte in Deutschland. Schönlein legte 1859 seine Ämter nieder und ging nach Bamberg zurück. Dort verlebte er bis zu seinem Tode 1884 noch einige ruhige Jahre.

Vor der Zeit Schönleins wurde das, was wir heute als Innere Medizin bezeichnen, vom Professor für allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie vorgetragen, und zwar als theoretische Vorlesung in lateinischer Sprache. Schönleins Verdienst war es, den klinischen Unterricht zum Kernstück der ärztlichen Ausbildung aufzuwerten und in Deutsch abzuhalten sowie die Medizinische Klinik in den Mittelpunkt einer jeden medizinischen Fakultät zu stellen.

Während seiner Würzburger Zeit arbeitete Schönlein seine naturhistorische Methode zur Krankheilsbetrachtung aus. Dazu gehörten die Definition der Krankheit und die Beschreibung des Krankheitsverlaufes, die Erfassung der Symptome, die pathologisch-anatomische Kontrolle und die Untersuchung der historischen Entwicklung, die eine Krankheit im Verlaufe der Menschheitsgeschichte genommen hat. Damit gilt er als Begründer der internistischen Differentialdiagnostik.

Johann Friedrich Dieffenbach (1792-1847) übernahm die Nachfolge von Karl Ferdinand von Graefe (l787-1840) an der Chirurgischen Universitätsklinik in der Ziegelstraße. Er war ein Mann des Volkes und der angewandten Chirurgie. Bei den Berlinern erfreute er sich einer großen Beliebtheit. Damals gingen die Chirurgen noch in die Wohnung des Patienten und operierten dort. Dieffenbach hat die Klinik zwar nur sieben Jahre geleitet, ihr aber wichtige Impulse gegeben. So hat er die Äthernarkose bald nach ihrer Entdeckung schon 1847 in Berlin eingeführt. Wichtige Operationen der Plastischen Chirurgie gehen auf ihn zurück. Es wird berichtet. daß er zwischen der Vorstellung von zwei Patienten in der Vorlesung plötzlich auf einem Sofa starb.

Universitätsklinikum in der Ziegelstraße in der Mitte des 19. Jahrhunderts (Bildnachweis: R. Wienau).

Als Nachfolger von Dieffenbach wurde 1847 Bernhard von Langenbeck (1810-1887) gewählt, der die Klinik in der Ziegelstraße zum Zentrum der Europäischen Chirurgie neben Wien und Paris machen sollte. Von Langenbeck wurde noch in der vornarkotischen Ära der Chirurgie ausgebildet. Er operierte äußerst schnell und exakt. Er nahm die Eingriffe nicht nur in der Klinik, sondern auch in Privatwohnungen und Hotelzimmern vor. In den Neubau der Chirurgischen Klinik baute er nicht einmal einen Operationssaal ein, man operierte im Hörsaal. Von Langenbeck war sofort ein Verfechter der Antisepsis, die er ein Jahr nach der Erfindung durch Lister, also 1868, in Berlin einführte. Mit seinen Schülern Ernst Julius Gurlt (1825-1899) und Theodor Billroth (1829-1894) gründete er 1861 Langenbecks Archiv für Klinische Chirurgie und 1872 die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie. Er war 14 Jahre lang ihr erster Präsident.

Den weltberühmten Nachfolgern an der chirurgischen Klinik in der Ziegelstraße Ernst von Bergmann (1836-1907) und dann August Bier (1861-1949) standen schon die modernen Hilfsmittel der operativen Medizin, die Narkose und die Antisepsis routinemäßig zur Verfügung, um sie für ihre großen Leistungen einzusetzen.

Die Medizin im alten Berlin wurde nicht nur durch berühmte Ordinarien bestimmt, sondern auch durch die Ärzte des Volkes, die sich durch ihre aufopfernde Arbeit für ihre Kranken einen unsterblichen Namen gemacht haben. Die Großstadt war im 19. Jahrhundert durch ein außerordentlich schnelles Wachstum geprägt, aber auch durch die Entstehung von Massenquartieren und Elendsvierteln. Die Armut der Menschen, Hunger und Seuchen bewirkten eine hohe und frühe Sterblichkeit. Nicht nur zahllose Einwohner, auch die Armenärzte konnten ihren Unterhalt nicht verdienen. Im Preußen kam ein Arzt auf 6000 Einwohner. Trotzdem gaben die Ärzte ihre Berufung nicht auf. Zu den populärsten Volksärzten gehörte der »Alte Heim«.

Ernst Ludwig Heim (1747-1834) wurde als Sohn eines Pfarrers im Städtchen Solz in Sachsen geboren. Er studierte die Medizin in Halle und promovierte auch dort. Nach einer mehrjährigen Reise zu den Zentren der damaligen Forschung in Europa übernahm er 1776 in Spandau das Amt des Stadtphysikus. Heim behandelte die Armen umsonst. Er erwarb sich schon in jungen Jahren ein großes medizinisches Wissen, indem er die Sektion seiner verstorbenen Patienten veranlaßte, über die Kasuistiken genau Buch führte und die Erfahrungen der überlieferten Volksmedizin beherzigte. Im Jahre 1783 zog Heim mit seiner Familie nach Berlin, wo sich seine Praxis außerordentlich gut entwickelte. Er behandelte König Friedrich Wilhelm III. und die Königin Luise. Die Sprechstunden für die Armen begann er morgens um 6.00 Uhr während der Morgentoilette und dem Frühstück. Heim beherrschte das medizinische Wissen seiner Zeit und genoß dadurch eine ungeteilte Anerkennung als Arzt bis zu seinem Tode im 87. Lebensjahr.

Am 18. März 1848 kam es zur Revolution am Alexanderplatz, und hier auf den Barrikaden begann die Laufbahn eines der berühmtesten Ärzte, von Rudolf Virchow. Virchow und dann später Robert Koch haben zur Entwicklung der Medizin aus der Finsternis des Mittelalters in die Neue Zeit hinein den entscheidenden Anteil geliefert.

Rudolf Virchow wurde 1821 in dem pommerschen Städtchen Schivelbein geboren und absolvierte die medizinische Ausbildung an der berühmten Pépinière, der preußischen militärärztlichen Akademie in der Friedrichstraße. Nach der Habilitation 1847 übernahm er die Prosektur an der Charité. Wegen der Teilnahme an den revolutionären Barrikadenkämpfen mußte Virchow Berlin 1848 verlassen. Er folgte einem Ruf an die Universität Würzburg und kehrte 1856 als erster Inhaber des Lehrstuhls für pathologische Anatomie an dem neu erbauten Institut der Charité zurück. Er begründete das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie für klinische Medizin, heute Virchows Archiv.

Rudolf Virchow etwa im 60. Lebensjahr

In den Würzburger Jahren 1849-1856 schuf Virchow das Konzept der Cellularpathologie, das ihn selbst und die Berliner Medizin zu Weltruhm führen sollte. Vorausgegangen waren die Entdeckungen der Pflanzenzelle und der tierischen Zelle. Virchow begründete die Anschauung von der cellularen Natur aller Lebenserscheinungen. »Die Zelle ist wirklich das letzte eigentliche Formelement des Lebens. Sie ist nur solange wirksam, als sie uns wirklich als Ganzes entgegentritt“. So steht es in der Vorlesung seines Buches über die Cellularpathologie. Omnis cellula e cellula. Das war neu, denn Theodor Schwann (1810-1882) glaubte noch, daß sich die Zelle aus einem Schaum, aus einem Blastem entwickelt.

Die Humoralpathologie, die Säftelehre von Galen, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch allgegenwärtig. Sie bestimmte auch die therapeutischen Konzepte. Dann begründete Giovanni Batista Morgagni (1682-1771) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Solidarpathologie. Der Ursprung der Krankheiten war jetzt nicht mehr in einer Dyskrasie der Körpersäfte, sondern in Veränderungen von Organen bzw. Geweben zu suchen. Von hier aus bis zur Zelle als dem Sitz aller krankhaften Vorgänge im Organismus war es aber noch ein weiter Weg.

Virchow hat eine große Reihe von neuen Krankheitsbegriffen geschaffen, die heute zum selbstverständlichen Sprachgut der Medizin gehören wie Leukämie, Leukozytose, Anämie, Sarkom und viele andere. Auch die Begriffe der Thrombose und Embolie gehen auf ihn zurück.

Virchow hat sich auch mit ganz anderen Problemen intensiv befaßt. So gilt er als Begründer der Anthropologie. Er beteiligte sich an archäologischen Ausgrabungen in Deutschland und mit Heinrich Schliemann (1822-1890) im Vorderen Orient.

Mit seinem politischen Engagement hat Rudolf Virchow für die Berliner unendlich viel geleistet. An der ersten Stelle ist die Gründung des Pathologischen Instituts der Charité und des ersten Pathologischen Museums zu nennen, dessen Sammlungen heute von den Berlinern wieder mit großem Interesse besucht werden. Virchow hat die Pläne für vier städtische Krankenhäuser entworfen, Friedrichhain, Moabit, Urban und für ein Kinderkrankenhaus. Von unvorstellbar wichtiger Bedeutung war die Einführung der Kanalisation. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts standen überall die Aborthäuschen an der Straße, die von den Hausbewohnern benutzt wurden. Die Exkremente flossen in einer Rinne durch die Straßen, bis sie irgendwann in die Spree gelangten. Virchow plante rings um Berlin die Rieselfelder, in denen bis heute noch die Berliner Klärwasser versinken. Als Virchow mit 81 Jahren starb, hat er alle Ehrungen seiner Zeit erhalten.

Aborthäuschen am Molkenmarkt 1785 (Bildnachweis: J.G. Rosenberg)

Am 24. März 1882 rückte Berlin erneut in den Mittelpunkt der medizinischen Welt. Robert Koch hielt im Physiologischen Institut der Humboldt-Universität in der Dorotheenstraße vor den Mitgliedern der Physiologischen Gesellschaft einen Vortrag Über Tuberkulose. Er soll sein Referat mit den Worten begonnen haben. »Es ist mir gelungen, den Erreger der Schwindsucht, der Tuberkulose, zu entdecken, den Tuberkelbazillus.«
Robert Koch (1853-1910) wurde in dem Harzer Städtchen Claustal geboren. Sein Vater war Bergmann. Im Jahre 1876 erhielt Koch die Berufung als Regierungsrat in das Kaiserliche Gesundheitsamt nach Berlin. Er hatte als Landarzt in Wollstein, einer Kleinstadt heute in Polen, bereits den Erreger des Milzbrands entdeckt und die Färbemethoden für Bakterien sowie die Nährböden erfunden. Auch im Gesundheitsamt in der Dorotheenstraße wurde eine intensive Forschung betrieben. Koch erhielt zwei junge Militärärzte abkommandiert. Georg Kaffky und Friedrich Löffler, die wie Virchow ihre Ausbildung an der Pépinière absolviert hatten. Kaffky entdeckte den Typhuserreger und Löffler die Erreger von Diphtherie und Rotz. Der heiße strömende Wasserdampf wurde als sicheres Desinfektionsmittel erkannt.

Das größte Problem zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte blieb die Tuberkulose. Andere Seuchen wie die Pocken, die Pest oder die Cholera hatten zwar in ihren großen Epidemien Hunderttausende von Menschen dahingerafft, sie erloschen jedoch ebenso schnell wie sie kamen. An der Tuberkulose starben aber jahrein-jahraus jeder 7. Mensch und in den Ballungszentren der größeren Städte weit mehr. Koch gelang im Jahre 1882 die Darstellung des Erregers durch die Bearbeitung der Präparate mit Kalilauge und Methylenblau. Für die Züchtung in Reinkultur hatte er Nährböden von Rinder- und Schafblut erfunden.

Robert Koch gründete das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, das heutige Robert-Koch-Institut. Es war dem Rudolf-Virchow-Krankenhaus angeschlossen und verfügte dort über Tuberkulosebetten. Auch im Krankenhaus Moabit gab es eine Station für die chirurgische Behandlung der Tuberkulose, und Koch leitete dort die spezifische Tuberkulin-Behandlung. In das berühmte Institut kamen später Emil von Behring, August von Wassermann, Paul Ehrlich und andere Forscher hinzu.

Koch reiste mit seinen Mitarbeitern, dem kompletten Laboratorium und all den Versuchstieren weit in der Welt herum. In Kairo und Kalkutta entdeckte er 1883 den Erreger der Cholera. Im Namen der Berliner Medizin nahm er an fünf Expeditionen durch Zentralafrika zur Erforschung der Schlafkrankheit und anderer Tierseuchen teil. Robert Koch erhielt die höchsten Ehrungen in seiner Zeit und 1905 den Nobelpreis. Er starb im 67. Lebensjahr an einer Herzkrankheit.

Die Entwicklung der Medizin aus der Finsternis des Mittelalters zu einer modernen Naturwissenschaft dauerte 250 Jahre, vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie lief simultan in den Zentren der europäischen Kultur ab, in London, Paris, Wien und Berlin. Die herausragenden Wissenschaftler dieser Zeit sahen ihre Arbeit als Lebensaufgabe. Werner von Siemens hat in einer Rede auf den Begründer der Pépinière Johannes Goerke gesagt, daß die wahre Hinterlassenschaft großer Männer an der Entwicklungsfähigkeit ihrer Ideen zu messen ist. Die Medizin des Alten Berlins lebt in unserer Ärzteschaft fort.

Literaturverzeichnis
1. Engelhardt v D, Hartmann F (1991) Klassiker der Medizin Bd II. München. Becksche Verlagsbuchhandlung

2. Krietsch P, Dietel M (1996) Pathologisch-Anatomisches Cabinet. Berlin Wien. Blackwell Wissenschaftsverlag

3. Rosenberg JG (1995) Berliner Stiche. Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung

4. Rüster D (1990) Über das medizinische Berlin. Berlin. Verlag Gesundheit

5. Unger H (1936) Robert Koch. Berlin Wien. Verlag Neues Volk

6. Virchow R (1858) Die Cellularpathologie. Berlin. August Hirschwald

7. Winau R (1987) Medizin in Berlin. Berlin New York. Walter de Gruyter


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