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Vortrag: European Congress of the International Union of Plebology. 26.09-1.10.1999 in Bremen, Deutschland.

Publikation: Hach W (2000) Die Entwicklung der großen Venenchirurgie in Europa. Chirurg 71:337-341

Aus dem Venenzentrum Frankfurt am Main
(Prof. Dr. W. Hach)

Die Entwicklung
der großen Venenchirurgie in Europa

Wolfgang Hach


Die Chirurgie der großen Körpervenen begann zwangsläufig mit der operativen Versorgung von Verletzungen. Häufig war die Vena femoralis betroffen. Aufgrund des berühmten Falles von Roux (1813) herrschte fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Ansicht, daß die Unterbindung der Vene nicht mit dem Leben vereinbar, und daß die schwere venöse Blutung nur durch die Ligatur der Arteria femoralis zu stillen ist.

Das Zaufal´sche Prinzip (1880) bestand in der Unterbindung und Resektion von großen Körper- und Extremitätenvenen zur Verhütung der Sepsis bei eitrigen Prozessen. Noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kam das Operationsverfahren bei der perforierten Appendizitis und beim Kindbettfieber zur Anwendung. An der Extremität wirkte sich die induzierte venöse Stauung in günstiger Weise auf die Heilung aus.

Zunächst griff die operative Behandlung der tiefen Bein- und Beckenvenenthrombose (1931) offensichtlich an der Dekompression von Kompartmentsyndromen an. Die erste Thrombektomie erfolgte 1937; aber schon im folgenden Jahr wurde auf der 61. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie über mehrere Operationen mit glücklichem Ausgang berichtet.


Max Schede (1844-1902) Chirurg in Berlin, Bonn und Hamburg. Führte 1877 die Umstechungen der Varizen ein und nahm 1892 die erste direkte Venennaht bei der intraoperativen Verletzung der V. cava inferior vor.

Es liegt in der Natur der Dinge, daß sich die Chirurgen zu allen Zeiten mit den Verletzungen der großen Venen befassen mußten. Bis in die frühe Neuzeit hinein waren aber operative Eingriffe an den tiefen Venen direkt nicht möglich. Zur Behandlung der lebensbedrohlichen Blutung stand nur die Anwendung des Glüheisens zur Verfügung.

Relativ oft war die V. femoralis communis bei Stich- und Schußwunden in der Leistenregion betroffen. Bei der schweren Blutung aus der Oberschenkelvene befanden sich die Chirurgen der früheren Zeit in einer dramatischen Situation. Im Jahre 1813 nahm der berühmte Pariser Chirurg Philibert-Joseph Roux (1780-1854) eine Unterbindung der V. femoralis communis vor. Sein Patient, ein Militärarzt, hatte sich die Gefäßverletzung im Duell zugezogen. Es kam zur Gangrän der Extremität mit tödlichem Ausgang. Aus dieser Beobachtung zog Roux den Schluß, daß die isolierte Ligatur der V. femoralis nicht mit dem Leben vereinbar ist, und daß die unstillbare Blutung aus der Vene eine sofortige Exartikulation des Beins erforderlich macht (12).

Verschiedene chirurgische Krankheiten, die durch äußere Einflüsse entstehen. Armamentarium chirurgicum des Joannis Scultetus Ulmensis 1666. Tabula, XXV Fig.1.: Inwendig deß obern Schenckels im linken Fuß / eine lange Wunden / welche man zusammen hefften soll./.

1873 lieferten die Untersuchungen des Leipziger Professors für Anatomie Christian Wilhelm Braune (*1831) für den tödlichen Ausgang einer Ligatur der V. femoralis communis den (scheinbaren) Beweis. Durch Injectionen mit Harzmasse und filtrirter Milch in die peripheren Venen am Leichnam von Selbstmördern konnte Braune unterhalb des Poupartschen Bandes keine Kollateralkreisläufe finden. Wie zur Bestätigung dieser These berichtete der Würzburger Chirurg v. Linhart in seiner Operationslehre über die folgende Kasuistik aus dem Jahre 1860:

Ich kann die Beobachtung (von Roux) bestätigen. Bei einem etwa 14-jährigen Knaben, dem durch ein Kammrad Musculatur und Gefäße dicht unterhalb der vasa profunda zerrissen wurden, habe ich vor 14 Jahren die Vena femoralis an der genannten Stelle unterbunden und nach 12 Stunden war die ganze linke untere Extremität ödematös und grün gefärbt. Der Kranke fing rasch an zu deliriren und starb 16 Stunden nach der Unterbindung. Wenn mir jetzt ein solcher Fall vorkäme, würde ich nach Roux´s Vorschlage sofort die Exarticulation im Hüftgelenke vornehmen (zit. n. 4).

Im Jahre 1831 führte der französische Chirurg Gensoul die
Unterbindung der Arteria femoralis durch, um eine schwere venöse Blutung unter Kontrolle zu bringen. Dazu teilte er die folgende Beobachtung mit: Ein kräftiger Mann hatte einen Schuß in die Hüfte erhalten, der das Oberschenkelbein zertrümmerte. Anfangs war der Zustand des Patienten zufriedenstellend, dann aber traten Fieber, Erbrechen und Schüttelfrost auf. Unter einem heftigen Frostschauer kam es zu einer schweren Blutung aus der V. femoralis, die zunächst durch Kompression zu stillen war. Der Patient riß sich dann den Druckverband ab und sofort setzte die Blutung wieder ein. Ohne Zaudern nahm Gensoul die Unterbindung der Arteria femoralis communis vor. Der Eingriff dauerte zwei Minuten und wurde gut überstanden. Im Gegensatz zu dem Roux'schen Fall entstand keine Gangrän; der Patient starb aber, wie es damals fast üblich war, sieben Tage später an der Sepsis.

Aus dieser Erfahrung gelangten Gensoul und dann auch andere Chirurgen zu der Ansicht, daß zur Stillung der schweren venösen Blutung nur die Unterbindung der A. femoralis communis geeignet ist. Anderenfalls mußte die Extremität abgesetzt werden.

Unterbindung von Gefäßmündungen. Tafel XVI Ligatura. Aus Froriep LF u. Froriep R (1820-47) Chirurgische Kupfertafeln Bd II. Landes-Industrie-Comptoir Weimar. Links eine Arterien-Pincette, deren federnde Blätter durch einen in der Spalte laufenden Schieber zusammengehalten werden.

Erst 1882 setzte sich der Heidelberger Chirurg Heinrich B. Braun aufgrund eines ausführlichen Studiums der Literatur mit dieser Problematik auseinander und trat für die Ligatur der Vene ober- und unterhalb der Verletzungsstelle ein. Von dem Volontärarzt L. Haber-staedter aus der Königsberger Klinik von Professor Garrè wurde 1903 die geschichtliche Entwicklung dieser dramatischen Operationsmethoden, die den meisten Patienten das Leben gekostet haben, sorgfältig aufgearbeitet.

Die schwere venöse Blutung blieb bis dahin nicht beherrschbar. Die schon 1857 von v. Langenbeck und in einzelnen Fällen auch früher geübte seitliche Abbindung der Venenwand hat sich nicht bewährt (4, 22). Ein anderes Verfahren bestand darin, eine Klemmpinzette zur Blutstillung anzulegen und 24 Stunden zu belassen; hierbei kam es aber häufig zu schweren Nachblutungen (3, 12, 22). Eine typische Kasuistik wurde von Kraske aus der Volkmann'schen Klinik in Halle mitgeteilt: Am Morgen des 5. Juli 1880 wurde ein 21jähriger gesunder, überaus kräftiger Student im Duell auf 15 Schritt Distanz durch einen Schuß aus gezogener Pistole kleinsten Kalibers verwundet. Die Kugel drang an der vorderen äußeren Seite des Oberschenkels dicht unter der Inguinalfalte ein und es zeigte sich sofort ein hervorquellender Strahl arteriellen Blutes. In Esmarch'scher Blutleere erfolgte zunächst die Unterbindung der Arterie und später auch der V. femoralis. Nach der Operation war das Bein kalt. Kraske wollte sofort die Exartikulation vornehmen, doch war der Patient infolge des Blutverlustes nicht mehr operationsfähig. So entschlossen sich die Ärzte zur offenen Wundbehandlung mit dem Lister'schen Verband. Am übernächsten Tag hatte der Patient abends 40° Fieber. Er klagte über brennenden Durst und über eine trockene Zunge. Die Karbolverbände wurde alle zwei Stunden erneuert. Am 8.Juli nahmen die in der Wunde freiliegenden Muskeln eine grau-braune Farbe an. Der Allgemeinzustand verschlechterte sich trotz der Gabe großer Mengen von Alkohol; die fieberhafte Unruhe war auch durch starke Dosen von Morphium nicht zu kupieren. In der Nacht zum 11. Juli 1880 stieg die Unruhe auf das höchste und der Student verstarb im Schock.

Über die Möglichkeiten zur direkten Versorgung einer Verletzung von großen Venen berichtete Schede 1892. Der Hamburger Chirurg führte seit 1884 die direkte Naht der großen Venen routinemäßig durch. Im Jahre 1892 verfügte Schede bereits über eine Erfahrung von 30 Eingriffen, meistens an der V. jugularis. Erstmals gelang ihm 1892 auch die Naht an der V. cava inferior. Schede hat die dramatische Operation ausführlich beschrieben:
Bei einem 48-jähriger Ingenieur bestand ein kindskopfgroßer maligner Tumor in der rechten Nierengegend. Die Operation fand am 25. November 1892 statt und war sehr schwierig. Es gelang nicht, den Stiel der Geschwulst darzustellen, deshalb legte Schede zunächst eine elastische Ligatur an. Nach Abtragung der Geschwulst zeigte sich, daß die Vena cava in die Unterbindung einbezogen war. Bei der Korrektur entstand eine heftige Blutung, die Hohlvene wies einen 2 cm langen Einriss auf. Schede führte eine direkte Naht der Gefäßwand durch. Nach einem zunächst unauffälligen postoperativen Verlauf traten am 8.Dezember fieberhafte Temperaturen und eine Gasentleerung aus der Wunde auf. Am folgenden Tage fand sich galliger Koth im Wundbereich. Der Allgemeinzustand des Patienten verschlechterte sich mit Übelkeit, Erbrechen, Fieber und abnehmender Harnausscheidung. Am 13. Dezember 1892 verstarb der Mann plötzlich. Bei der Sektion stellte sich eine Perforation des Duodenums heraus. Die Gefäßnaht hatte gehalten.

Erste Naht der Vena cava inferior durch M. Schede (1844-1902) im Jahre 1892. Sektionspräparat. Einriss der Gefäßwand gegenüber der V. renalis sinistra während einer Tumoroperation. Exitus durch Duodenalperforation. Die Nahtstelle (a) hatte gehalten.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Narkose schon in alle Operationssäle eingeführt worden, das Damoklesschwert der Sepsis schwebte aber weiterhin über den Kranken und machte fast jeden chirurgischen Erfolg zunichte. Am 9. August 1867 stellte Sir Joseph L. Lister (1827-1912), Professor für klinische Chirurgie, auf der Sitzung der British Medical Society in Dublin die erfolgreiche Anwendung seines Karbolverbandes vor. Bis dahin starben 80% aller Operierten an der eitrigen Wundinfektion oder an schweren Nachblutungen. In Deutschland hat sich das Lister´sche Verfahren schnell durchgesetzt (5, 10). Es konnten immer größere Eingriffe vorgenommen werden, um das Leben von todgeweihten Menschen zu retten. Jetzt kamen zwei neue Gefahren auf, anfangs nur selten und für die Ärzte kaum erkennbar, im Laufe der Jahrzehnte aber mit zunehmender Bedrohung: Die tiefe Venenthrombose und die Lungenembolie. Der schwedische Chirurg Lennander erinnerte sich im Jahre 1889 an einen typischen Krankheitsverlauf. Er schrieb: Eine ältere Frau war wegen einer oberflächlichen Eiterung vor einem Kniegelenk operirt worden. Nach einigen Tagen sollte sie mit einem Verband nach Haus entlassen werden... Sie bekam die Erlaubnis, aus dem Bett aufzustehen, um sich an einer an der anderen Seite des Saales befindlichen Waschstelle zu waschen. Das war das erste Mal, dass sie nach der Operation auf den Beinen stand. Sie hatte indessen kaum die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als sie umfiel; nach einigen Minuten war sie todt. Wie man erwartete, zeigte die Sektion frische Thromben in den erweiterten Venen unterhalb des Kniegelenks und einen Embolus in der Arteria pulmonalis.

Krankensaal um die Jahrhundertwende (Elisabethen-Krankenhaus Aachen 1905). Toilette, Badezimmer und Waschbecken befanden sich an der einen Seite des Saals und oftmals ein bis zwei Einzelzimmer (für Sterbefälle) an der anderen Seite.

Nach Lotheisen war die Thrombose noch 1902 gewiß ein seltenes Ereignis. Insgesamt waren bis dahin nur an die 500 Fälle bekannt geworden. Lotheisen teilte die Erfahrungen aus der Innsbrucker Chirurgischen Klinik von Professor von Hacker mit. Hier wurden 61 Lungenembolien mit 52 Todesfällen gesehen, am häufigsten nach der Herniotomie. Diese Situation läßt erahnen, welchen unglaublichen Weitblick Lennander gehabt haben muß, als er 1899 den Begriff der Thromboseprophylaxe schuf und dafür schon die wesentlichen Forderungen zusammenstellte. Lennander stand der Chirurgischen Universitätsklinik in Upsala vor. Wieder einmal war es die Kombination von Fleiß, Zufall und der plötzlichen Erkenntnis eines seiner Zeit vorausschauenden Mannes, die der Wissenschaft und damit auch der leidenden Menschheit zu einem großen Fortschritt verholfen hat. Lennander sah in seiner Klinik fünf tödliche Embolien, und zwar alle bei jungen, sonst gesunden Patienten nach Appendektomie. Die Kranken nach schweren Bauchoperationen erlitten dagegen keine Embolien. Lennander stellte nun in den beiden Gruppen die Unterschiede der ärztlichen und pflegerischen Versorgung gegenüber und kam zu folgender Feststellung: Bei den schwerkranken Patienten bestand nach der Operation meistens eine Anämie mit labiler Kreislaufsituation. Deswegen wurden die Beine elastisch bandagiert. Während der Operation erhielten diese Patienten ausgedehnte Spülungen der Bauchhöhle mit Kochsalzlösung. Durch Schrägstellung des Operationstisches und des Krankenbettes sollte diese Kochsalzlösung in die Nähe des Zwerchfells und des Herzens fließen, damit sie von dort wieder schneller in den Kreislauf gelangt. Im Juni 1897 gab Lennander an seiner Klinik die erste Anordnung zu generellen Thromboseprophylaxe heraus; sie umfaßte die Hochlagerung der unteren Extremitäten, passive und aktive Bewegungsübungen, Frottierungen der Beine sowie bei Patienten mit Varizen und bereits abgelaufener Thrombose eine elastische Bandagierung.

Im Jahre 1846 veröffentlichte der Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821-1902) seine Beobachtungen, daß die tödlichen Blutgerinnsel bei der Lungenembolie aus den peripheren Venen stammen. Ein Jahr später, 1847, teilte Semmelweis (1818-1865) seine revolutionierende Entdeckung mit, daß das Kindbettfieber auf einer bakteriellen Infektion beruht (23,24). Die beiden Forscher haben bei den Sektionen immer wieder gefunden, daß die tödliche Einschwemmung von infizierten Blutgerinnseln in den Blutkreislauf letztendlich auf eine eitrige Thrombose der Beckenvenen zurückgeführt werden konnte. Hier ergaben sich die ersten Ansatzpunkte für eine chirurgische Behandlung der puerperalen Sepsis auf der Grundlage des Zaufal'schen Prinzips (9). Emanuel Zaufal war Otologe in Prag. Er empfahl 1880 die Unterbindung der V. jugularis interna zur Verhütung der Lungenembolie bei einer Thrombose der Hirnvenensinus (29).

Als erster beschrieb Trendelenburg 1902 die chirurgische Behandlung des Kindbettfiebers durch Unterbindung der V. ovarica und der V. iliaca interna bei vier Frauen. Keine der Patientinnen konnte aber gerettet werden. Auch an anderen Kliniken waren die Erfolge der Venenligatur bei septischen Krankheitsbildern bescheiden (20, 26). Durchweg handelte es sich ja um große Eingriffe, die bei den schwerkranken Patienten als letzte Möglichkeit zur Abwendung des Todes vorgenommen wurden. Noch 1935 berichtete Biebl aus der Läwen´schen Klinik in Königsberg über ausgedehnte Resektionen der Vv. iliacae, ovarica und iliocolica bei der eitrigen Appendizitis und beim Kindbettfieber. Man nahm an, daß sich die Pyämie nur über die Venen ausbreitet, deshalb kam es auf die möglichst frühzeitige Operation an (15).

Im Bereich der Extremitäten haben sich die Ligatur und die Resektion der V. femoralis communis bei der Behandlung von septischen Krankheiten nur zögernd durchgesetzt. Von Winiwarter teilte 1919 aus dem K. u. K. Festungsspital in Trient die folgende Kasuistik aus dem Völkerkriege 1914/18 mit: Fall 8 K.V., 22 Jahre, wurde am 31.1. durch Granate verwundet, am 3.2. aufgenommen. Durchschuß an der Innenseite des linken Kniegelenkes mit Verletzung desselben und Bruch des inneren Oberschenkelknorrens. Hohes Fieber, Schwellung des Gelenkes. 4.2. Spaltung des Schußkanals und Entfernung des größten Teiles des gebrochenen Condylus des Oberschenkels...6.2. Wegen Fieber bis 40 Grad wird...die Wunde breit eröffnet. Unterbindung der Vena femoralis...Der Kranke wird ins Wasserbett gelegt, ...vom 2.5.an ist er fieberfrei. Am 23.5. mit mäßig eiternden Wunden in bestem Wohlbefinden ins Hinterland abgeschoben.

Von 17 Soldaten mit infizierter Kniegelenksverwundung haben 12 überlebt. Nach der Unterbindung der Vena femoralis trat sofort eine mächtige Stauung in der ganzen unteren Extremität auf. Das Bein wurde blau-schwarz und schwoll in kurzer Zeit stark an. Merkwürdig schnell aber, ich möchte fast sagen unerwünscht schnell, kam ein voll funktionierender Kollateralkreislauf zustande Das Ödem klang mehr und mehr ab. Die Symptome der Sepsis gingen schneller zurück. Sofort nach der Operation war das infizierte Kniegelenk schmerzfrei. Kranke, die den ganzen Tag gejammert hatten und abends sehnsüchtig auf das erlösende Morphin warteten, konnten schon am ersten Tag ohne Injektion schlafen.

Offenbar war das klinische Bild der schweren Bein- und Beckenvenenthrombose noch wenig bekannt und gab den Anlaß zu Fehlentscheidungen. So erfand der deutsche Chirurg E. Haim im Jahre 1931 zufällig ein neues Operationsverfahren, und er beschrieb die folgende Krankengeschichte: Am 18. Februar 1927 wurde im allgemeinen öffentlichen Krankenhaus in Böhmisch Budweis ein 37jähriger Mann mit Endomyocarditis aus der inneren in die chirurgische Abteilung verlegt. Er sah sehr verfallen aus, hatte 38,8° Fieber und eine starke unförmige Schwellung des rechten Beins mit heftigen Schmerzen. Unter der Verdachtsdiagnose einer Phlegmone wurde in Äther-Narkose eine ausgiebige Inzision am Oberschenkel nach allen Richtungen und schließlich bis auf den Knochen durchgeführt, es fand sich aber kein Eiter. Haim berichtete weiter: Unbefriedigt ob des meiner Meinung nach überflüssigen operativen Eingriffes verließ ich den Kranken. Mit schlechtem Gewissen trat ich am nächsten Tag an sein Bett und war nicht wenig erstaunt, als er mich mit bewegten Worten des Dankes empfing. Die Extremität war abgeschwollen, der Verband voll von blutig-seröser Flüssigkeit; das Fieber und vor allem die rasenden Schmerzen waren verschwunden. Am 20. Februar 1927 traten dann ein heftiges Beklemmungsgefühl in der Brust, Atemnot und perikarditisches Reiben auf. Der Allgemeinzustand verschlech-terte sich. Am 2. März 1927 wurde der Patient auf eigenen Wunsch entlassen; er verstarb wenige Tage später an der schweren Krankheit. Haim hat seine Operation mit tiefen Inzisionen und Drainagen noch an fünf anderen Patienten mit tiefer Venenthrombose durchgeführt. Die Methode konnte sich aber nicht durchsetzen.

Trotz der rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der Venenchirurgie seit der Jahrhundertwende blieb die Eröffnung von großen Körpervenen über lange Zeit tabu. In Deutschland wurde die Entfernung der Thromben aus der V. femoralis und den Beckengefäßen wohl zum ersten Male von Fründ 1937 in Osnabrück vorgenommen, um das Rezidiv einer Lungenembolie zu verhüten. Fründ eröffnete die V. saphena magna und die V. femoralis; dann ließ er den Patienten die Blutgerinnsel herauspressen. Anschließend unterband Fründ die Venen, um einem zweiten Thrombus den Weg zum Herzen zu versperren. Später führte er den Eingriff auch vor dem Eintritt der Lungenembolie durch.

Langenbeck-Virchow-Haus der Berliner Medizinischen Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in der Luisenstraße 58-59 vor dem Zweiten Weltkrieg.

 

Auf der 61. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie am 21. April 1938 im Berliner Langenbeck-Virchow-Haus in der Luisenstraße hielt Artur Läwen aus Königsberg das Hauptreferat zum Thema Weitere Erfahrung über die operative Thrombenentfernung bei der Venenthrombose und stellte fünf Patienten vor (17). Läwen legte die V. iliaca externa frei, drückte sie mit einem Tupfer ab und entfernte die Throben von der V. femoralis aus. Er konstruierte dafür ein stumpfes harkenfömiges Instrument, den Thrombuskratzer. Alle Operationen verliefen zunächst glücklich, darunter auch ein Fall von Thrombose der V.subclavia; zwei Patienten verstarben später. Die Indikation sah Läwen bei der sehr schweren Lungenembolie, bei einem Arterienspasmus und bei der ausgeprägten peripheren Stauung gegeben. Läwen sagte: Es kann noch keine Rede davon sein, die blande Venenthrombose allgemein operativ zu behandeln. In der Diskussion berichteten aber schon mehrere Chirurgen über ihre Erfolge mit der Thrombektomie.

Kulenkampff war 1938 Chefchirurg im Heinrich-Braun-Krankenhaus Zwickau/Saale; er lehnte den großen Eingriff bei den schwerkranken Patienten ab. Als Alternative empfahl er, die Thrombektomie von der V.saphena magna aus vorzunehmen. Wandadhärente Gerinnsel wurden mir einer Kornzange entfernt und weiche Thromben vom Patienten herauspresst.

 

Die Verhütung schwerer und tödlicher Embolien durch Ausräumung der Vena iliaca nach D.Kulenkampff 1938 in Zwickau. Entfernung des Thrombus über die V. saphena magna mit einer Kornzange.

Kulenkampff veröffentlichte dazu die nachstehende Krankengeschiche: Ein Patient war wegen einer schleichenden Thrombophlebitis in der Mitte des linken Oberschenkels schon längere Zeit behandelt und bekam eines Tages eine leichte Embolie. Als ich die Patientin 2 Tage später sah,...war auch in der Leistenbeuge kein sicherer Befund zu erheben. Ich legte sofort die Vena saphena am Lig. Pouparti in örtlicher Betäubung frei. Die Vena saphena enthielt einen Thrombus. Sie wurde durchtrennt, der Thrombus nach Schlitzung der Saphena vorsichtig mobilisiert und herausgezogen. An dem derben Anteil des Saphena-Thrombus hing, weit in die Iliaka hineinreichend, ein 7cm langes weiches Blutgerinnsel: Keine Wiederholung der Embolie und Heilung... Erlebt man so etwas, so kommt man sich vor wie der Reiter auf dem Bodensee: Wie oft mögen wir harmlos an einem Patienten gestanden und vorbei gegangen sein. Kulenkampff hat auf diese Weise insgesamt 61 Fälle operiert und darunter auch 5 mit genuiner tiefer Venenthrombose.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte der französische Chirurg Fontaine die Thrombektomie zu einem standardisierten Eingriff entwickeln. Mit der Erfindung des Fogarty-Katheters und mit Einführung der alloplastischen Gefäßrekonstruktion, mit der Antikoagulation und der Antibiose ist die Geschichte einer Chirurgie der großen Körpervenen zunächst abgeschlossen. Sie hat von der Unterbindung der V. femoralis 1813 bis zur Thrombektomie im modernen Sinne lange 150 Jahre gedauert. Die allermeisten Patienten durften ihre Operation nicht überleben, sind an der Blutung, der Sepsis oder an der Lungenembolie gestorben. Es waren mutige, letztendlich aber enttäuschte Ärzte, die sich der großen Herausforderung gestellt haben.


Literaturverzeichnis
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